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Geschwister-konstellationen

Dorothea Beier (Heilpraktikerin für Psychotherapie)

Vor ein paar Tagen saß ich in einem Zug und hörte, wie ein älterer Herr in meinem Abteil ein Telefonat führte. Laut und deutlich konnte ich vernehmen – ohne ihn belauschen zu wollen – wie er zu seinem Gesprächspartner voller Entrüstung sagte: „Ich habe einen scheußlichen
Bruder! Immer wieder gibt es Konflikte zwischen uns. Er ist scheinbar neidisch auf mich, weil ich erfolgreicher bin, und das lässt er mich ständig spüren. Gerade hat er mir eine total gemeine WhatsApp geschickt. Manchmal kommt es mir vor als wiederhole sich das gleiche
Szenarium von damals vor 60 Jahren bei uns in der Kinderstube. Mir klingt noch der Satz in den Ohren: Das ist mein Spielzeug, das hast Du nicht anzufassen!“

Solche und ähnliche Klagen über Geschwisterprobleme kann man immer wieder hören. Glücklicherweise gibt es natürlich auch beglückende Geschwisterbeziehungen. Aber wie kommt es nun, dass es so häufig Probleme unter Geschwistern gibt, die sich bis ins Erwachsenenalter hinein auswirken? Welche Faktoren spielen hier eine Rolle? Können Eltern etwas tun, um ihren Kindern zu helfen, sich im Miteinander nicht ständig als Rivalen zu erleben?

Zunächst ist die Stellung in der Geschwisterreihe von Bedeutung. Es macht einen Unterschied aus, das älteste, mittlere oder jüngste Kind zu sein. Aber auch der Altersunterschied ist von Bedeutung. Ebenso spielt das Geschlecht eine Rolle. Ist das erste Kind ein Junge oder ein Mädchen, sind nur Mädchen in der Familie oder nur Jungen, oder gibt es gemischte Geschwisterpositionen.

Älteste Kinder – egal ob Junge oder Mädchen – sind z. B. häufig deutlich intelligenter, auch leistungsorientierter und gewissenhafter als nach ihnen geborene Geschwister. Sie sind zumeist vernünftiger und vorsichtiger als ihre Geschwister, und oftmals haben sie auch eine Neigung zum Perfektionismus. All diese Faktoren kann man der bei ihrem ersten Kind besonders bemühten, ja manchmal sogar noch der etwas ängstlichen Mutter zuschreiben.
Älteste orientieren sich an ihren erwachsenen Vorbildern, sie versuchen, so wie diese zu sein.
In ihnen steckt der Wunsch, Vaters und Mutters Fußspuren zu folgen, und weil sie diesen unbedingt gefallen möchten, folgen sie ihnen eher ohne Widerspruch als das dann später geborene Kinder tun. Eltern legen beim ersten Kind meist großen Wert darauf, dass es vor allem Gehorsam lernt. Man kann beobachten, dass Ältesten daher Regeln und Grenzen sehr wichtig sind, und dass sie es im späteren Leben manchmal auch damit übertreiben. Sie neigen oft dazu, über ihre Geschwister bestimmen zu wollen.

Schauen wir uns hierzu nur einmal den älteren Sohn im Gleichnis vom „verlorenen Sohn“ in der Bibel an (LK 15, 25-32). Für ihn war es unverständlich, dass der Vater für seinen jüngeren Bruder, der doch eigentlich in seinen Augen Strafe verdient hätte, stattdessen ein Fest feiert.
Das erste Kind in einer Familie erlebt häufig ein sogenanntes „Entthronungstrauma“, wenn sich ein zweites Kind anmeldet bzw. geboren wird. Häufig kann man dann auch Rivalitätskämpfe erleben, wie uns das ja bereits ganz am Anfang der Bibel mit der Kain und Abel- Story in 1. Mo 4, 1-16 beschrieben wird. Schon an dieser Geschichte können wir deutlich erkennen, wie stark die Eifersucht der Älteren auf ein Geschwisterkind sein kann. Völlig unbewusst fürchten häufig Geschwister einen Liebesverlust ihrer Eltern durch den Bruder oder die Schwester. Nicht selten kann man erleben, dass sie aus diesen Gründen sogar einen Beseitigungswunsch äußern.

Zweitgeborene Kinder genießen zunächst den Vorzug, dass die Mutter jetzt bereits viel sicherer im Umgang mit ihnen ist, im Vergleich zum erstgeborenen Kind. Sie sind daher auch meistens mutiger und forscher in ihren Erkundungen, sie orientieren sich an ihrem Geschwisterkind und lernen von diesem. Während die Älteren zunächst damit fertig werden müssen, einen Konkurrenten zu haben, neigen Zweitgeborene – besonders bei gleichem Geschlecht – dazu, die Erstgeborenen „überflügeln“ zu wollen. Im Erwachsenenalter kann das dann gelegentlich dazu führen, dass sie sich gern auch einmal älteren Personen widersetzen.
Rivalitätskonflikte zum älteren Geschwisterkind entstehen besonders dann, wenn das zweitgeborene Kind seine Stellung in der Familie nicht findet. Und wird nach der Geburt des zweiten Kindes sobald ein Drittes geboren, kann dies unter Umständen dazu führen, dass sich das Mittlere – wir sprechen auch oft vom Sandwichkind – ständig benachteiligt fühlt.

Die Bibel berichtet uns im Lukasevangelium, in Kapitel 10, 38-42 von zwei Schwestern, von Maria und Marta. Eines Tages kommt Jesus mit seinen Jüngern zu ihnen zu Besuch. Marta, die ältere der beiden, geht sofort ihrer Pflicht nach. Die Zweitgeborene Maria hingegen setzt sich zu Jesu Füßen und hört ihm zu. Die ältere Schwester Marta ist darüber verärgert. Sie beschwert sich bei Jesus und sagt: „Herr, kümmert es dich nicht, dass meine Schwester mir allein die ganze Arbeit überlässt? Sag ihr doch, sie soll mir helfen!“ (LK 10,40)
Die ältere Schwester fühlt sich verantwortlich, was sehr typisch für Erstgeborene ist. Die jüngere Schwester macht sich gar nicht so viele Gedanken, sie genießt einfach das Zusammensein mit Jesus und seinen Jüngern.
Zweitgeborene wurden schließlich so geprägt: Die Mutter und auch häufig sogar das ältere Geschwisterkind haben sich um sie gekümmert. Wenn auch die ältere Schwester sich durch gute Leistungen die Liebe der Eltern häufig erkauft, so hat die jüngere dies nicht nötig. Daher lebt sie viel unbesorgter, besonders in dieser Geschwisterkonstellation bei zwei Mädchen.
Aber die Jüngere kann auch Probleme bekommen, z. B. wenn sie merkt, dass die Ältere durch ihren Fleiß viel mehr Erfolge erzielt. Oftmals versucht sie dann, sich doch noch eine ganz besondere Position in der Familie zu erzwingen. Im schlimmsten Fall kann sie sich auch zu einem „Rebell“ entwickeln, meistens aus Neid auf die Schwester.

Das Thema Geschwisterkonstellation kann man unendlich ausschöpfen und sich dann auch sehr gut darin wiederentdecken. Eltern sind gut beraten, wenn sie sich damit beschäftigen.
Oft kann es nämlich schon bei Erziehungsproblemen helfen, wenn sie die Gründe für das Verhalten ihrer Kinder erkennen und einordnen können. Kinder, die spüren, dass sie verstanden werden, sind viel leichter zu leiten, als Kinder, die immerfort glauben, nicht verstanden zu werden. Ältesten kann man z. B. vermitteln, dass sie wertvoll sind, auch wenn sie nicht immer alles perfekt meistern. Wenn sich Geschwister einstellen, brauchen sie immer wieder die Zusicherung der Eltern, dass sie ihren Wert als ältestes Kind nie verlieren werden.
In der Geschichte von Maria und Marta lobt Jesus Marta für ihre Mühewaltung, aber er fordert sie auch dazu auf, sich nicht zu viel Sorgen zu machen.
Zweitgeborenen kann man oft dadurch helfen, dass man ihre ganz besondere Begabung entdeckt und fördert. Sie brauchen oft viel Lob und Anerkennung, weil sie auch schnell einmal an sich zweifeln. Jesus lobt Maria, indem er sagt, dass sie den guten Teil erwählt hat.
Eltern können ihren Kindern ebenfalls entscheidend helfen, wenn sie ihnen ihre Gefühle spiegeln. Bei einem Wutanfall z. B. kann es für das Kind eine Hilfe sein, wenn man ihm sagt: „Du bist gerade wütend. Ich kenne solch ein Gefühl auch, und ich weiß, wie einem dabei zumute ist!“ Durch solch eine Bemerkung kann man Kinder entlasten. Sie spüren auf diese Weise, dass man sie versteht und ernstnimmt.
Dem Ältesten kann man z. B. auch einmal sagen: „Du gibst Dir wieder so viel Mühe! Das ist ganz fabelhaft! Manchmal kann es aber auch nötig sein, dem bereits verlangsamten Kind, weil es immer alles ganz richtig machen möchte, zu helfen. Älteste brauchen oft die Zusicherung
der Eltern, dass sie nicht die Verantwortung für ihre Geschwister tragen müssen.

Beim mittleren Kind ist es häufig besonders nötig, den Selbstwert zu stärken. Das kann oft gelingen, wenn man ihm vermittelt, dass es eine ganz besondere Begabung hat, etwa im musischen, handwerklichen oder sportlichen Bereich usw.
Sehr hilfreich kann es auch sein, mit dem einzelnen Kind besondere Zeiten zu verbringen.

Am Anfang habe ich mein Erlebnis auf der Bahnfahrt geschildert. Es zeigt nur allzu deutlich, wie sehr Kindheitserfahrungen – auch im Hinblick auf Geschwisterbeziehungen – unser späteres Erwachsenenleben häufig noch bestimmen können. Aber auch hier ist Heilung und ein Umdenken möglich. Und wieder ist der erste Schritt Erkenntnis über die Zusammenhänge.
Erfahrungsberichte zeigen, dass alte Wunden – auch in belasteten Geschwisterbeziehungen – heilen können, wenn gegenseitiges Verstehen möglich wird. Und vor allem Menschen, die durch ihren Glauben an Gott Vergebungskraft geschenkt bekommen, erleben dann oft, dass
sogar zerbrochene Beziehungen wiederhergestellt werden. Ein biblisches Beispiel hierfür finden wir in 1. Mose 50, 17-21: Josef konnte seinen Brüdern vergeben, obwohl sie ihn aus Neid beinahe umgebracht und dann in ein fremdes Land verkauft hatten. Weil er an Gott festhielt, auch in all seiner Not, bekam er die Kraft seinen Brüdern am Ende nicht nur zu vergeben, sondern sie sogar zu lieben.

Literatur:
Grün, A.: Geschwisterbande, München 2018
Leman, K.: Geschwisterkonstellation, München 2016
Toman, W.: Familienkonstellation. Ihr Einfluss auf den Menschen, München 2011