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Gibt es für Kevin Hilfe?

Dorothea Beier (Heilpraktikerin für Psychotherapie)

Der 10-jährige Kevin bereitet Lehrern und Erziehern Kopfzerbrechen. Bereits im Kindergarten war er durch sein unruhiges, ungestümes Verhalten auffällig geworden. „Der Stuhlkreis morgens ist mit Kevin eigentlich nicht möglich. Er redet immer wieder dazwischen oder steht einfach auf und läuft umher. Und die anderen Kinder lassen sich oft von ihm ablenken“, so schilderte es die Erzieherin.

In der Schule ist Kevin dann sehr unbeliebt. Er hat keine Freunde und wird ausgegrenzt. „Mit dem kann man nicht spielen, der verdirbt immer alles!“, so beklagen es die Mitschüler. Und auch die Lehrer haben ihre Not mit Kevin. „Bisher hat nichts Wirkung gezeigt, ob nun Briefe mit Vorladungen an die Eltern, Androhungen, dass er die Schule wechseln muss oder Strafarbeiten, es ist ihm scheinbar gleichgültig“, so erzählt es einer seiner Lehrer.

Kevins Eltern sind ratlos. „Was können wir tun? Auch zu Hause benimmt sich Kevin unmöglich. Er ist ungehorsam, aufsässig, ärgert seine Geschwister und lässt sich nichts sagen. Natürlich platzt uns dann oft der Kragen“, so berichten sie verzweifelt.

Kevin ist kein Einzelfall. Immer häufiger werden Kinder durch ihr Verhalten auffällig. Viele fühlen sich unsicher und gehen schon morgens mit schlechten Gefühlen in die Schule. Sie haben Angst vor Mobbing und Ausgrenzung. Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung „erleben mehr als die Hälfte aller Kinder Ausgrenzung, Hänseleien oder körperliche Gewalt in der Schule.“[1]

Häufig reden Kinder nicht über ihr Erleben oder sie haben es längst aufgegeben, weil sie sich nicht verstanden fühlen. Bei Kevin scheint das auch so zu sein. Ja, was geht eigentlich in ihm vor? Inzwischen hat er längst einen Stempel bekommen: „Kevin ist ein schwieriges Kind“, so sind sich alle einig. Und Kevin glaubt das inzwischen bereits längst.

Gibt es niemanden, der Zugang zum Herzen dieses Kindes findet?

Eine neue Lehrerin ist an die Schule gekommen. Sie ist davon überzeugt, dass auch in Kevin ungeahnte Ressourcen stecken, die nur überdeckt sind. Sie möchte dem Jungen zu gerne helfen, und so lädt sie eine Fachkraft, die als Coach ausgebildet ist, zur Hospitation in die Klasse ein.  Und tatsächlich gelingt es der Hospitantin nach mehreren Interventionen, Kevins Herz zu erreichen und er ist bereit, sie am Nachmittag in ihrer Beratungspraxis aufzusuchen. Durch intensives und regelmäßiges Coaching – die Eltern mit einbezogen – fängt Kevin an, immer mehr aufzublühen. Sein oft impulsives Verhalten ist noch nicht ganz verschwunden, aber er kann sich inzwischen besser in die Klassengemeinschaft einfügen. Die Lehrkraft ermöglicht ebenfalls ein Coaching mit der ganzen Klasse. Mit Erfolg! Die Kinder sind nach vielen praktischen Übungen, Spielen, Beispielsgeschichten, Gesprächen über gute und schlechte Gefühle, und wie diese uns im täglichen Leben beeinflussen, mehr und mehr in der Lage, sich in ihre Mitschüler hineinzuversetzen und somit einander wertzuschätzend zu begegnen. Sie lernen, aufeinander zuzugehen und sich gegenseitig zu helfen. Jedes Kind lernt in den kommenden Monaten mit den eigenen Gefühlen und denen der Mitschüler mit Achtung umzugehen.

Mithilfe von Programmen, die die sozialen Kompetenzen stärken, erkennen die Kinder, dass sich eigentlich jeder von ihnen Wertschätzung, Lob und Anerkennung wünscht – auch Kevin.

Die Kinder lernen im Coaching einen „Gedanken-Wirkungs-Kreislauf“ kennen. Es wird ihnen erklärt, dass unsere Gedanken unsere Gefühle bestimmen. „Viele Menschen haben schlechte Gedanken über sich selbst“, erklärt die Fachkraft. „Sie glauben z. B. nicht so wertvoll zu sein wie andere, sie glauben verkehrt und schlecht zu sein, ungenügend oder nicht ausreichend begabt. Und diese Gedanken machen ihnen schlechte Gefühle. Schlechte Gefühle bewirken, dass wir unglücklich sind, uns nicht gut verhalten und von anderen abgelehnt werden. Das ist dann oft so, als wenn wir einen schweren Rucksack voller Steine schleppen müssen.“

Die Kinder haben viel durch das Coaching gelernt. Natürlich gab es auch immer einmal wieder Rückschläge, nicht nur bei Kevin. Aber eine Grundlage ist gelegt auf die nun die Lehrerin zurückgreifen kann. Sie weiß, dass Empathie zu lernen ein Prozess ist, sowie der Umgang mit den eigenen Gefühlen.

„Ihr könnt Euch gegenseitig helfen, gute Gedanken und gute Gefühle in Euren ‚Rucksack‘ zu holen“, haben die Kinder im Coaching gelernt. Darauf nimmt die Lehrerin nun häufig Bezug.

Und tatsächlich – auch Kevin erhält zunehmend von seinen Mitschülern Lob und Anerkennung.

Kevins Eltern entdecken inzwischen viele positive Seiten an ihrem Kind. In schwierigen Situationen geben sie ihm Feedback, dass sein Verhalten aus einem unbefriedigten Bedürfnis resultiert. Sie haben es mittlerweile gelernt, ihrem Kind Gefühle zu spiegeln. Kevin fühlt sich dadurch verstanden und von seinen Eltern geliebt. Immer wieder sagen sie gemeinsam einen Spruch, den Kevin im Coaching gelernt hat: „Ich bin nicht perfekt, und das ist gut so! Ich gebe mein Bestes und ich mag mich!“

[1] https://www.zeit.de/gesellschaft/2019-07/studie-kinder-jugendliche-gewalt-mitbestimmung-schulen?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F