Kaum zu glauben! Ende September schlendere ich mit meinem jüngsten Sohn durch die Glastür eines nahe gelegenen Möbelhauses, das mit einem reichen Warenangebot ausgestattet ist. An diesem Tag machen wir uns auf den Weg, um eine neue Stehlampe für unser Musikzimmer auszusuchen. Ich liebe es Neues für das Haus zu kaufen. Inspiration für manch verstaubte Ecke im Haus kann ich dort erfahren. Beim Stöbern durch das reiche Angebot finde ich oftmals so manches „besondere Stück“ zum Verschenken oder auch, um sich selbst zu beschenken.
Doch als ich an diesem Samstagnachmittag, es war der Michaelistag, mein geliebtes Möbelhaus betrete, glaube ich meinen Augen nicht zu trauen: „Hier will man mich als potenziellen Kunden auf den Arm nehmen – das ist ja die völlige Verarsche“, schießt es mir durch den Kopf.
Vor vier Tagen erst zeigte mir mein Kalender „Herbstanfang“ an und jetzt bin ich von leuchtenden Weihnachtsbäumen umgeben.
„Es ist doch noch nicht einmal Erntedank gewesen“, überlege ich so bei mir. Eine Zehntelsekunde lang glaube ich, was verpasst zu haben: „Bin ich jetzt dement und habe ich da was verpennt? Bin ich nur für einen kurzen Moment wieder klar?“ Blankes Entsetzen durchzuckt mich.
Mit meinem jüngsten Sohn an der Hand gehe ich ganz langsam durch diesen künstlichen Weihnachtswald mit Sternchen, Lametta und allem dazugehörigen Glimmer, nebst Weihnachtsliedern aus der Konserve: „Advent, Advent ein Lichtlein brennt“, ertönt es durch die Lautsprecherboxen des Möbelhauses.
Was macht man hier mit uns Menschen: Es ist September, die Blätter färben sich gerade gelb, rot und braun. Und hier steht der ganze Laden im Weihnachtszauber.
Mein Sohn wendet sich mir zu und leichtgläubig fragt er: „Weihnachten? Mama, ist die Stehlampe, die wir kaufen wollen, ein Weihnachtsgeschenk für Papa?“ Hui, das ist eindeutig zu viel des Guten. Tief Luft holend sage ich mit bestimmter Stimmlage: „Oh NEIN, hier scheinen die Uhren etwas schneller zu ticken als sonst wo auf der Welt!“
So gehen wir in die Richtung der Lampenausstellung und schauen uns suchend nach einer geeigneten Stehlampe um. Eine freundliche Verkäuferin spricht uns an: „Kann ich Ihnen helfen?“
Ohne nachzudenken, öffne ich meinen Mund und lasse zuallererst meinem Entsetzen Raum: „Was machen sie hier nur mit uns Menschen? Ich habe tatsächlich für einen Bruchteil einer Sekunde geglaubt, ich sei dement und hab´ Weihnachten verpennt.“
Die Verkäuferin reagiert nicht überrascht und erhascht sich von mir Verständnis für ihre Situation: „Was soll ich denn sagen, ich muss mir das acht Stunden am Tag im September, Oktober, November und Dezember anhören. Was glauben Sie wohl, wie ich das Weihnachtsfest erlebe? Das ist fast wie eine Erlösung.“
Erlösung? In meinem Kopf rattert es: „Das Warten auf die Ankunft unseres Erlösers Jesu Christi. Das Fest der Geburt unseres Herrn und Heilandes. Gott selbst kam in dem Menschen Jesus Christus auf die Erde und hat sein Leben ‚unschuldig am Kreuz’ für den sündhaften Menschen gelassen. Er litt, damit der Mensch ewig leben darf.“
Ich höre mich antworten: „Diejenigen unter uns, in unserer Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, die sich mit dieser Erlösungstat Jesu Christi auseinandersetzen und erkennen, dass der Tod uns nichts mehr anhaben kann, weil wir in Jesus Christus auferstehen werden, gleich wie ER auferstand, diejenigen leiden heute unter dieser Geschäftemacherei, die mit dem Heiligen Christfest betrieben wird.“
Jetzt merke ich, dass ich einen Volltreffer bei dieser Verkäuferin gelandet habe. Sie winkt mich an ihren Schreibtisch, bietet mir einen Stuhl an und schiebt meinem jüngsten Sohn auffordernd ebenfalls einen kleinen Hocker hin.
Aus ihr sprudelt es nur so heraus: „Ich fühle mich in meiner christlichen Religion und den wertvollen Werten, die mir das Christentum seit meiner Kindheit vermittelt hat, überhaupt nicht ernst genommen. Die Würde des christlich geprägten Menschen und seine Festtage werden von diesen Mammuten des Konsums völlig missachtet.“ Jetzt platzt mein Jüngster heraus: „Sieht auch alles ziemlich kitschig aus. Sie müssten unseren Baum mal sehen, da haben wir fast alle Sterne selbst gebastelt.“ Ich schmunzle und erwidere: „Weihnachten und Advent im 21. Jahrhundert wird so was von verkitscht. Es ist eine Geschäftemacherei mit der Erlösungstat Jesu Christi.“
Die Verkäuferin mir am Schreibtisch gegenüber war augenscheinlich ein lebendiger Fisch einer Christengemeinde und legt nun vor mir ein Zeugnis ab: „Jesus hat uns nicht mit Geld erkauft, sondern mit seinem Leben und Leiden – mit seinem Tod am Kreuz. Ja, Gott selbst hing an diesem Kreuz; er wurde ausgepeitscht, bespuckt und ausgelacht. So wird sich auch noch heute über ihn lächerlich gemacht; wie diese Veralberung des Christfestes mit diesem Klimbim hier im Laden.“ Ich atme auf. Einerseits durchzuckt es mich mit Freude in diesem Durcheinander meiner Eindrücke von Herbst und Weihnachten die Worte dieser Verkäuferin zu hören. Andererseits bemitleide ich sie, da sie gezwungen ist, fast vier Monate dieses Spektakel auszuhalten. Wie erlebt sie wohl den ‚Heilig Abend’ unter dem Tannenbaum? Die Weihnachtsfeiertage? Aber ich traue mich gar nicht sie in dieser Situation zu fragen.
„Ja, ja“, stottere ich herum und gleichzeitig sehe ich in ihren Augen große Traurigkeit und bemerke leidvolle Anspannung und ermutige sie: „Sie erleiden und erdulden hier täglich im Grunde die Verhöhnung unseres Glaubens an den Auferstandenen und Gekreuzigten. In keiner Religion ist eine solche Erlösungstat zu finden – allein das Christentum hat dies zu bieten. Nicht durch Werke werden wir gerecht vor Gott, sondern allein durch den Glauben. Das war die zentrale Stelle in der Bibel, auf die Luther vor 500 Jahren stieß und die Werkgerechtigkeit gewissermaßen abschaffte!“
Ich spüre wie sich ihre Gesichtszüge erhellen und fahre eifrig fort: „In der heutigen Pädagogik, in der Gesellschaft und sogar in der Wirtschaft schreit man nach einem Wertekanon. Der Ruf nach einer ‚guten Schule’ ist in aller Munde. Menschlichkeit und den Blick auf den Einzelnen wird von Eltern in der Schule erwartet. Differenzierung des Unterrichtsstoffes, Motivation der Schüler, Methoden bis zum Abwinken soll der Lehrer einführen – alles, damit die Schüler gute Noten schreiben, um einen ‚erfolgreichen Schulabschluss’ zu erreichen und um eine ‚gute Ausbildungsstelle’ zu bekommen. Last not Least: Um ´ne Menge guter Kohle zu verdienen. Der Fokus dreht sich immer um das liebe Geld.“ Mein Sohn fing nun auch noch an sich einzumischen: „Werte? Was ist das? Die Verkäuferin, beginnt meinem Sohn zu erklären, dass wir Erwachsene die ‚Werte’ den Kindern vorleben: „Deine Mama geht mit dir einkaufen. Sie zeigt dir, dass man längst nicht alles kaufen kann, was man gerne haben möchte. Und du lernst daraus mit Geld richtig umzugehen. Oder sie geht mit dir zur Kirche und schickt dich nicht einfach allein am Sonntagmorgen in den Gottesdienst, nur weil du vielleicht eine Unterschrift für deine Konfirmation brauchst. Du lernst die Echtheit des Glaubens an deinen Eltern. Du siehst wie deine Eltern sich streiten und sich wieder versöhnen und einander vergeben.“ Er mit dem Kopf nickend: „Ja, ja. Das weiß ich alles. Aber ich wusste nicht, dass man das ‚Werte’ nennt.“ Er sich zu mir wendend: „Mama, welche Lampe nehmen wir jetzt denn mit? Die da vorne, die dir als erstes gleich auffiel. Außerdem muss ich mal für kleine Jungs.“
So endete das Gespräch umleuchtet von Lampen.
Nicht das theoretische Wissen von Werten ist es, was Kinder lernen, sondern das Vorleben von Werten wie auch das Vorleben des Lernens. Lernen und Arbeiten die Eltern bereitwillig und mit Freude – ohne zu fluchen und zu meckern, so werden es ihnen die Kinder gleichtun. Werte wurden früher Tugenden genannt. Eine Begrifflichkeit, die Jugendliche kaum noch von Erwachsenen hören und leider nicht immer vorgelebt bekommen wie: Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Wahrheit, Segen, Treue, Orientierung im Alltag, Verantwortung, Freiheit, Vertrauen zu den eigenen Stärken und Schwächen, Vertrauen zum Nächsten ohne Lug und Trug, ohne Missgunst und Überheblichkeit, Solidarität, Frieden, Höflichkeit, Disziplin, Pünktlichkeit, Toleranz, usw.; die Akzeptanz der abendländischen Wurzeln, auf dem unser Grundgesetz steht, sind allein über die Vorbilder zu lernen. Kinder ahmen die Erwachsenen nach. Ebenso lernen Kinder aus den Gesprächen von Erwachsenen. Egal an welchen Tagen, ob an solch einem Tag wie heute, den man Michaelistag nennt: Der Tag des Erzengels Michael. Michael hat in der Offenbarung Kap. 12 mit dem „großen Drachen, der alten Schlange, dem Teufel, der Satan genannt wird und der den ganzen Erdkreis verführt“, gekämpft und er hat über den Bösen gesiegt.
„Und ich höre eine laute Stimme im Himmel sagen: Nun ist das Heil und die Kraft und das Reich unseres Gottes und die Macht seines Christus gekommen; denn hinabgeworfen ist der Verkläger unserer Brüder, der sie Tag und Nacht vor unserem Gott verklagte. Und sie haben ihn überwunden wegen des Blutes des Lammes und wegen des Worts ihres Zeugnisses“
(Offenbarung 12, 10-11a).